Von der Hand in den Mund

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Bis vor Kurzem war der Mundschutz über aller Munde. Den Mundraub gibt es auch. Nach Gesetz ist das Auflesen fremder Äpfel mit einer Busse strafbar. Die Tendenz hin zum Regionalen und der Kampf gegen Lebensmittelverschwendung bringen die Sache neu auf den Tisch.

Alles beginnt mit Adam und Eva, die vom Baum der Erkenntnis die verbotene Frucht – den Apfel – essen. Heute liegt es im Trend, regional zu leben. Im letzten November hat die Vermicelleria zum dritten Mal in Folge die Marronizeit und damit die saisonale Sensation im Zürcher Kreis 4 eröffnet. Das Team um Hanna Bücker, Nicole Heim und David Jäggi ist einen Monat zuvor ins Tessin gereist, um in den Kastanienselven die Früchte selbst einzusammeln. Einst als Tessiner Grundnahrungsmittel bekannt, gehört das römische Kulturerbe in den Südtälern mittlerweile grösstenteils der Öffentlichkeit. «Mancherorts wurden Bäume eingezäunt oder mit einem Stück Stoff gekennzeichnet, die haben wir nicht angerührt», sagt David Jäggi. «Wir stehen in engem Kontakt mit Paolo Bassetti aus Cadenazzo. Er ist selbst in der Verarbeitung tätig, überall gut vernetzt und sieht alles ganzheitlich. Durch ihn wissen wir, in welchem Gebiet der Ertrag legal und ergiebig ist.» Insgesamt haben Freund:innen während einer Woche eineinhalb Tonnen Kastanien gesammelt. Die Vermicelleria steht ausschliesslich für Regionalität – in Produkt und Produktion. Damit sollen die Ressourcen genutzt werden, die sonst einfach kaputtgehen, da viele Tessiner Kastanien nicht geholt und einfach verkümmern würden. Anders läuft es im Bergell, woher ebenfalls Früchte für das beliebte Marronipüree stammen. Da alle Bäume in Privatbesitz stehen und dementsprechend gepflegt werden, bezieht die Equipe Vermicelles das Produkt beim dortigen Kastanienverein.

«Den Mund verbieten»

Vor einem Jahrhundert war der Mundraub im kantonal geregelten Strafrecht verankert. Das Pflücken und Auflesen fremder Naturalien zum eigenen Gebrauch zog, vergleichsweise mit einer diebischen Tat, einen gemilderten Schuldspruch mit sich. Durch die Einführung des Schweizerischen Strafgesetzbuches galt eine Unterschlagung aus Not, Leichtsinn oder zur Befriedigung eines Gelüstes des Weiteren als Entwendung. 1995 wurde dieser Straftatbestand gänzlich abgeschafft, was zu einer eigentlichen Verschärfung führte, weil fortan kein Unterschied mehr gemacht wurde zwischen Verbrauchsmittelentwendung oder Diebstahl. «Wenn du in den Weinberg eines andern kommst, darfst du so viel Trauben essen, wie du magst, bis du satt bist, nur darfst du nichts in ein Gefäss tun. Wenn du durch das Kornfeld eines andern kommst, darfst du mit der Hand Ähren abreissen, aber die Sichel darfst du auf dem Kornfeld eines andern nicht schwingen.» Das Deuteronomium entspricht nicht der gesetzlichen Wahrheit. In der Tat ist es strafbar, Kirschen von Ästen zu pflücken, die von einem privaten Grundstück über die Gemeindestrasse hinausragen. Selbst zu Boden gefallenes Obst darf nicht zu Eigenverzehr gemacht werden. Eine Ausnahme stellt das Anriesrecht im Zivilgesetzbuch sicher – als private Grundeigentümer:innen mit einer Überbauung ist es erlaubt, Nahrungsmittel, die das eigene Gelände tangieren, abzuernten und zu behalten.

Apfelbaum mit blauem Himmel

Eine Map macht’s möglich

Die Idee eines Genussatlas zur Entdeckung essbarer Landschaft entstand 2009 unter Freund:innen in Berlin, die Menschen mit Obstbäumen verbinden wollten. Bisher wurden auf der deutschsprachigen Plattform mundraub.org über 53'000 Fundorte von vergessenem Obst auf öffentlichem Grund verzeichnet, viele davon in Stadtnähe. Alle haben die Möglichkeit, sich an der Nutzung und Gestaltung der Kulturlandschaft zu beteiligen und gefundene Positionen laufend neu zu kartieren. In der Schweiz beziehen sich die Einträge hauptsächlich auf den Jura und das Mittelland – darunter Frühäpfel am Seeufer bei Uster, Holunder beim Zoologischen Garten in Basel, Bärlauch im Schaffhauser Klettgau oder Edelkastanien in der Umgebung Luzern. Die nahe liegende Natur und Stadtnatur lassen sich aus einem anderen Blickwinkel erkunden, wobei der Fokus bei der Erhaltung regionaler Produkte und dem archaischen Bedürfnis nach Teilen liegt.

Für ihre Bärlauch- und Brennnessel-Nudeln pflückt Martina Ronner Wildpflanzen an Waldplätzen in der Region Schaffhausen. Rohstoffe aus ökologischer und umliegender Landwirtschaft sind ihr wichtig. Nebst der Nudel-Manufaktur sucht sie auch Beeren für Konfitüre: «Mir geht es um das Zusammenspiel mit der Natur. Die gesunden Produkte verschenke ich oft, somit erreichen die Beeren viele Menschen, und wir können sie uns teilen.» Früher war es üblich, in abgeernteten Äckern liegen gebliebenes Gemüse mitnehmen zu dürfen: «Bei uns im Dorf hat man aber immer erst nachgefragt.» Für Martina Ronner ist das Sammeln in der Natur tief im Menschsein verankert: «Man pflegt und kultiviert die Orte beim Begehen gleichzeitig auch. Auf diese Art fällt mir auf, durch welche Einflüsse sich die Umgebung verändert.»

Dass in der Stadtumgebung eine Vielfalt an essbaren Pflanzen wächst, manchmal eine noch grössere als auf dem Land, weiss auch Elena Velychko. Was an Kräuterkunde und Fermentation über Generationen von ihrer ukrainischen Familie weitergegeben wurde, ist seit zwei Jahren zur Hauptbeschäftigung geworden. Die Corona-Pandemie hat Raum geschaffen, etwas Neues anzufangen – sie kocht mit Zutaten aus der Natur und bietet im Mühlerama in der Mühle Tiefenbrunnen Kurse an. «Das Interesse für Wildpflanzen ist in der breiten Öffentlichkeit gewachsen. Auch viele Gastronomiebetriebe folgen dem Konzept des Regionalen und Saisonalen», schwärmt Elena Velychko. «Es ist ja nicht nur gesund, dabei entstehen ebenso viele spannende Aromen, mit denen in der Küche experimentiert werden kann.» Auch ihr eigenes Geschmacksempfinden entwickelt sich laufend weiter, oft kommen ihr die Ideen beim Spazierengehen: «Man wird sensibel und achtsam auf das Naheliegende.» Sie kennt die Plätze der Schlehenbeere oder der Nachtkerze und verlässt diese Orte praktisch unverändert: «Das ist meine Methode des Sammelns, ich nehme mir wirklich nur, was ich brauche, und niemals alles.»

Mundraub Karte der Schweiz

mundraub.org

Pflücken von Kräutern in der Natur

Gut Ding will Weile haben

Too Good To Go ist der weltweit grösste Online-Marktplatz für übrig gebliebenes Essen. Das Leitbild wurde 2016 in Dänemark entwickelt und hat sich rasant in ganz Europa und mittlerweile auch in den USA etabliert. Die Macher:innen von mundraub.org gehören zu den Ersten, die Menschen im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung vernetzen möchten, bisher jedoch ohne Zugang zu einer App. Empfang und Internet sind auf der Suche nach gekennzeichneten Objekten unabdingbar, es sei denn, die Karte wird vorab zu Hause ausgedruckt. Eine weitere Methode, die in Süddeutschland seit etwa zwei Jahren umgesetzt wird, ist die Aktion Gelbes Band. Anders als bei mundraub.org, wobei es sich um öffentlichen Grund handelt, werden private Obstproduzent:innen selber aktiv und setzen mit gelben Bändern an Bäumen ein Zeichen der Solidarität und gegen Lebensmittelverschwendung. Betriebe können überschüssige Nahrungsmittel symbolisch kennzeichnen, damit andere sich selbst bedienen dürfen. Dieser Ansatz käme der Mund-zu-Mund-Propaganda etwas näher und wäre zugänglicher für Menschen ohne Smartphone oder Internet. Ob das Konzept auch in der Schweiz umsetzbar wäre, ist aufgrund der Gesetzgebung jedoch fraglich. Sobald es sich um ein privates Grundstück handelt, müsste geklärt werden, wer im Falle eines Sturzes vom Baum haftet oder wie die Abfallregelung gewährleistet ist.

Elena Velychko fermentiert, trocknet, stellt Sirup, Schnaps und Einweckgläser mit Früchten, Gemüse und Pilzen her. Dennoch ist ihr bewusst, dass nicht genügend Ressourcen vorhanden sind, würden alle nach dieser Überzeugung leben. Eine mögliche Zukunft der Nahrungsmittelgewinnung kann sie sich als Permakultur vorstellen: «Wir brauchen dringend andere Technologien zur Erzeugung und Produktion von Lebensmitteln.» Sie legt nahe, auf den Rhythmus der Natur zu achten und unser Leben bestmöglich danach auszurichten: «Das Schöne am Sammeln ist, dass ich immer saisonal koche und erfinderisch sein kann, um Geschmäcker durch andere zu ersetzen. Zierquitten gibt es in Zürich beispielsweise sehr viele. Die wunderbare Säure der Früchte benutze ich von Oktober bis Januar anstelle der von Zitronen.»

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