Möglichst alles offen lassen

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Für uns war klar: Egal, welches Geschlecht unser Kind hat, es wird Bodys in jeder Farbe tragen und später mit Playmobil-Autos und / oder Puppen spielen können. Wie schon beim älteren Bruder, der bis in den Kindergarten lange Haare hatte, Nagellack und pinke Kleider trug, weil das seine Lieblingsfarbe war, wollten wir bei unserer Tochter alles offen lassen.

Um Begriffe wie heteronormatives Denken und binäre Geschlechterordnung, cis-Frauen oder cis-Männer, Trans, Bigender, Agender, Neutrois oder Genderfluid – und damit über geschlechtsoffene oder geschlechtsneutrale Erziehung machten wir uns jedoch kaum Gedanken.

Erst in den letzten Jahren hat sich unsere Denkweise mehr und mehr verändert. Unter anderem durch Coming-outs von Jugendlichen und Kindern in unserem Umfeld oder weil wir durch die Medien mehr über Gender im Allgemeinen erfahren haben. Seither wird uns immer noch bewusster, wie oft uns Geschlechterstereotypen überall im Alltag begegnen. In der Spielzeugabteilung, in Schulbüchern und auch in der Werbung, es herrschen auch im Jahr 2023 klare Vorstellungen über weiblich und männlich, die kaum hinterfragt werden: Pinke Barbiepuppen, Glitzerkleidchen oder Handtaschen werden klar den Mädchen zugeordnet. Pullis mit Totenköpfen, Ritter, Autos und Lego-Technics den Jungs. In den Kinderbüchern ebenso: Mädchen sind immer noch oft Prinzessinnen, Pferdenärrinnen oder machen Ballett, und die Jungs erleben Abenteuer, zähmen Drachen oder führen Detektiv-Banden an. Mädchen sind kommunikativ und hübsch, Buben draufgängerisch und mutig.

«Aus der Gender-Forschung ist bekannt, dass Stereotypen im Alltag Ungleichbehandlungen verstärken und Diskriminierung fördern.»

Doch warum ist das ein Problem? Es tut ja keinem weh, oder etwa doch?

Geschlechterstereotypen enthalten oft eine hierarchische Wertung. Es geht bei den Zuordnungen also nicht nur darum, was weiblich und was männlich ist, sondern vor allem wer besser und wer schlechter, wer stärker und wer schwächer ist, wer mehr Macht und wer weniger hat und was als «normal» und was als «krank» gilt: Frauen gelten als schwächer als Männer, nur Frauen und Männer können eine Familie gründen, nur nicht behinderte Menschen sind gesund, Trans ist schlechter als ein Mensch, der sich dem Geschlecht zugehörig fühlt, das ihm bei der Geburt zugewiesen wurde.

Oder hast du schon einmal eine Lego-Familie gesehen mit zwei Vätern oder zwei Müttern oder gar mit einem Trans-Kind? Dazu sind die abgebildeten Menschen und Familien oftmals weiss, christlich und nicht behindert. Denn auch das fehlt in der Vielfalt: Menschen mit einer Kippa oder einem Kopftuch, People of Color, Menschen mit Behinderungen.

Aus der Gender-Forschung ist bekannt, dass Stereotypen im Alltag Ungleichbehandlungen verstärken und Diskriminierung fördern. Ein Grund dafür, warum etwa Frauen weniger verdienen, mehr unbezahlte Arbeit erledigen als Männer oder als «schwaches» Geschlecht gelten, sind Geschlechtszuschreibungen und die Annahme, es liege in der Natur der Frau, Kinder zu gebären und sozial zu sein. Aber auch auf die Männer haben die Zuschreibungen oft einen negativen Effekt: Sie sollen keine Gefühle zeigen ausser Wut, sie sollen Karriere machen und damit die Familie ernähren, kurz: das «starke» Geschlecht verkörpern. Viele Männer schildern, sie würden im Alltag eine Maske tragen, damit sie als Mann ernst genommen würden – unter anderem auch deshalb ist die Suizidrate bei Männern viel höher als bei Frauen.

Die Zuschreibungen nach Geschlecht beginnen schon früh. Eine Studie mit einem Baby zeigte: Sagt man den Betrachtenden, das Baby sei ein Junge, interpretieren sie sein Weinen als Wut. Nehmen sie an, es sei ein Mädchen, führen sie das Weinen auf Angst zurück. Andere Studien belegten, dass wissenschaftliche Aufsätze als intelligenter und vielschichtiger bewertetet wurden, wenn der Name des Autors männlich ist, dasselbe gilt auch für die Bewertung eines Kunstwerks – und auch hierfür wurden nur die Namen ausgetauscht.

Und all das reproduzieren wir, wenn wir unsere Vorstellungen von Männlichkeit, von Familie, von Rollenverteilung, von Gender nicht hinterfragen, sondern unseren Kindern einfach die Bilder weitergeben, mit denen wir selbst aufgewachsen sind – und die von unseren Eltern hätten hinterfragt werden sollen.

Unsere Tochter liebt Glitzer, Nagellack, Ohrringe und alles, was wir Frauen zuschreiben. Oft wird sie trotzdem anhand ihrer Kleidung und ihres Auftretens für einen Jungen mit langen Haaren gehalten. Für uns ist das beides in Ordnung. Solange wir – oder andere – ihr keine Vorstellung davon aufzwingen, wie sie zu sein hat.

«Geschlecht ist nichts Einschränkendes»

Hausmann, Kommunikationsberater und Blogger Markus Tschannen (40) bemüht sich zusammen mit seiner Frau Jana (31), Sprachwissenschaftlerin, die gemeinsamen Kinder geschlechtsoffen zu erziehen.

  • Warum ist es Ihnen wichtig, Ihre Kinder geschlechtsneutral oder, wie Sie sagen, geschlechtsoffen zu erziehen?

    Ich habe grob unterteilt drei Beweggründe:
    1. Meine Kinder sollen sich von gesellschaftlichen Erwartungen nicht einschränken lassen, sondern sich frei nach ihren Interessen und Vorlieben entfalten können.
    2. Meine Kinder sollen ihre eigene geschlechtliche Entwicklung (Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung) verstehen und sicher damit umgehen können.
    3. Meine Kinder sollen anderen Menschen, die nicht stereotypen Geschlechtervorstellungen entsprechen, offen und respektvoll begegnen.
    Letztendlich geht es dabei um die psychische Gesundheit meiner Kinder (und ihres Umfeldes), denn niemandem geht es gut, wenn si*er in eine Form gepresst wird, die nicht passt.

  • Wie macht man das, bzw. worauf ist dabei zu achten?

    Wichtig ist es, sich als Eltern selbst mit dem Thema Geschlecht, geschlechtliche Vielfalt und Geschlechterstereotypen zu befassen und problematische Denkmuster aufzubrechen. Das ist ein Prozess, bei dem man irgendwann an den Punkt gelangt, dass man seine Kinder nicht mehr in erster Linie als Mädchen oder Jungen betrachtet, sondern in jeder Lebenssituation einfach als Kinder. Spätestens ab dann läuft die geschlechtsoffene Erziehung ziemlich selbstverständlich, und man macht sich im Alltag nur noch selten Gedanken zum Thema.

«Mit einem lapidaren ‹Er dürfte schon mit Puppen spielen, wenn er möchte› ist es natürlich nicht getan.»
  • Wie sieht das konkret aus?

    Ganz klassisch gehört zur geschlechtsoffenen Erziehung natürlich, dass ich meinen Kindern alle Farben, Kleidungsschnitte und Spielsachen gönne. Mit einem lapidaren «Er dürfte schon mit Puppen spielen, wenn er möchte» ist es natürlich nicht getan. Ich muss mich schon aktiv darum bemühen, dass das Kind auch wirklich Zugang zu dieser Vielfalt hat. Besonders wichtig ist in meinen Augen die sprachliche Ebene, denn Sprache erschafft Realität. Hier vermeiden wir es, Geschlechterstereotypen zu reproduzieren, setzen beispielsweise Adjektive wie «hübsch» oder «stark» ausgewogen ein, reden auch von Bauarbeiterinnen und Krankenpflegern. Eine Herausforderung ist es, Medien zu finden (Bücher, Filme, Serien), die Geschlechterstereotypen aufbrechen und Vielfalt zeigen.

  • Wie ist es mit der Aufklärung?

    Wir vermitteln unseren Kindern die Vielfalt der geschlechtlichen Identitäten und sexuellen oder romantischen Orientierungen. Nicht in ernsten Aufklärungsgesprächen, sondern regelmässig und ganz natürlich in den Alltag eingebettet.

  • Gibt es so etwas wie einen Standard für geschlechtsoffene Erziehung?

    Nein. Es ist kein fixes Konstrukt. Man kann da unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Manche Eltern wählen für ihre Kinder geschlechtsneutrale Namen, verwenden keine Pronomen oder Neopronomen und schauen, dass auch das Umfeld die geschlechtsoffene Erziehung konsequent mit umsetzt (Kita, Grosseltern). Ganz so weit sind wir nicht gegangen.

  • Inwiefern entsprechen Sie als Eltern nicht dem binären Geschlechtssystem? Oder anders gefragt: Wie lebt ihr Geschlechtsneutralität vor?

    Nun ja, wir sind ein verheiratetes cis-hetero-Paar mit zwei Kindern im Eigenheim am Stadtrand und fuhren bis vor Kurzem sogar noch einen Volvo-Kombi. Uns fehlt nur der Hund zur perfekten Spiesserfamilie. Das ist nicht gerade queer Patchwork. Immerhin: Ich bin Hausmann, meine Frau arbeitet Vollzeit. Ich finde solche Punkte aber gar nicht so wichtig. Die Lebensentwürfe sind unterschiedlich, und wir alle erfüllen in manchen Bereichen Geschlechterklischees, in anderen nicht. Man kann auch mit einer klassischen Rollenverteilung geschlechtsoffene Erziehung leben. Genauso, wie ein geschlechtsoffen erzogenes Mädchen übrigens auch rosa und Pferde mögen darf. Wie ein Mensch lebt, soll ja eben gerade nicht für alle anderen auch gelten.

  • Was ist dann ausschlaggebend?

    Wichtiger ist, wie wir sprechen und im Alltag handeln. Das ist oft situativ. Wenn ich im richtigen Moment rosa Kleidung oder Nagellack trage, kann ich meinen Kindern einiges vermitteln. Dann kann in der Schule ruhig jemand sagen: «Rosa ist eine Mädchenfarbe.» Meine Kinder wissen trotzdem, dass diese Aussage nicht einfach Gesetz ist.

  • Was nervt Sie am meisten am binären Geschlechtsverständnis?

    Die Selbstverständlichkeit, mit der die Mehrheit gesellschaftliche Rollen- und Geschlechtervorstellungen als naturgegeben betrachtet. Dass (in meinen Augen) extreme und problematische Rollenklischees nicht als solche erkannt werden und stattdessen Eltern wie wir in die «extreme» Ecke gestellt werden, nur weil wir etwas Gegensteuer geben wollen.

  • Inwiefern, denken Sie, sind binäre Geschlechtsklischees schädlich?

    Wirklich problematisch wird es, wenn ein Kind glaubt, seine Identität unterdrücken zu müssen, weil es vorgelebt bekommt, dass seine Wünsche, Vorstellungen, Empfindungen oder Vorlieben nicht richtig seien. Die Herausforderung ist: Man weiss ja nicht im Voraus, was es beim eigenen Kind sein wird. Max mag vielleicht Pferde, Leonie ist trans, Mia verliebt sich in andere Mädchen, und Noah möchte später gerne Mode designen oder sich um Babys kümmern. Diesen und vielen anderen Kindern wird in den Medien und von ihrem Umfeld vermittelt, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Nicht explizit, aber immer und immer wieder in subtilen kleinen Dosen. Die einzige Möglichkeit, sie davor zu schützen, ist es, ihnen umfassend vorzuleben, dass das Geschlecht nichts Einschränkendes ist.

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