Wahre Kosten von Lebensmitteln: Was darf die Ware kosten?

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Fleisch müsste doppelt so teuer sein, Gemüse dagegen günstiger – das zumindest fordern Wissenschaftler:innen, die zu wahren Kosten von Lebensmitteln forschen. Nur so könnten wir ein nachhaltiges Ernährungssystem schaffen.

In der Gemüseabteilung herrscht dichtes Gedränge. Ein älterer Herr steht vor dem Gestell mit den Tomaten. Akribisch begutachtet er das Angebot und entscheidet sich schliesslich für die Fleischtomaten ohne Label. Hinter ihm schiebt sich ein Vater mit zwei kleinen Kindern vorbei, legt sich eine Packung Bio-Tomaten in den Einkaufskorb.

Er wird an der Kasse tiefer in die Tasche greifen müssen als jener Rentner, der sich für die konventionell erzeugten Tomaten entschieden hat. Und das, obwohl dieser mit seinem Einkauf mehr Schaden anrichten wird: Zum einen, weil ihn das mit Pestizid belastete Gemüse auf Dauer krank machen und so die Gesundheitskosten in die Höhe treiben könnte. Zum anderen, weil durch die exzessiven Produktionsmethoden die Böden – und mit ihnen die Biodiversität – nachhaltig zerstört werden.

Würde man diese Faktoren berücksichtigen, ergäben sich komplett andere Lebensmittelpreise; unabhängig davon, ob die Produkte bio sind oder nicht. Darüber sind sich Fachkreise einig. Doch im hiesigen Ernährungssystem gelten andere Regeln. Wie teuer ein Lebensmittel im Laden angeboten wird, hängt von Lohnkosten, Importbestimmungen oder der Marge ab, die Detailhändler:innen einer Ware aufdrücken. Den Auswirkungen, die ein Produkt auf die Gesellschaft oder die Umwelt hat, wird hingegen kaum Beachtung geschenkt. Dabei warnen Wissenschaftler:innen schon seit mehreren Jahrzehnten davor, dass das heutige Ernährungssystem nicht nachhaltig ist.

Eine emotionale Debatte

Wie wir die Wende schaffen, dazu gibt es verschiedene Ansätze. Den Fleischkonsum zu reduzieren, hätte laut einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften am meisten Potenzial. Doch die Diskussion rund um unsere Essensgewohnheiten ist emotional stark aufgeladen.

Das zeigte sich einmal mehr, als der deutsche Discounter Penny im Sommer 2023 eine Woche lang Lebensmittel zu deren «wahren Kosten» anbot. Für die Aktion liess der Detailhändler neun Produkte von Wissenschaftler:innen neu berechnen: inklusive Folgekosten für die Umwelt und die Gesundheit. So mussten die Verbraucher:innen für eine Wurst plötzlich doppelt so viel bezahlen wie sonst, dafür wurde Bio-Gemüse günstiger. Der Aufschrei in den Medien war riesig. Deutsche Bauernverbände warfen dem Discounter Greenwashing vor, und die Fleischindustrie kritisierte, dass die positiven Eigenschaften von tierischen Produkten ausgeklammert wurden.

Auch Expert:innen aus der Wirtschaft räumten der «Wahre-Kosten-Aktion» nur wenig Erfolg ein, weil viele Konsumierende unter der hohen Inflation leiden würden. Sogar Penny selbst rechnete mit Umsatzeinbussen im einstelligen Millionenbereich. Trotzdem schien die Kampagne etwas bewirkt zu haben. Wie die Auswertung der Kund:innenbefragungen zeigt, gab immerhin jede:r Zweite an, dass die Aktion ihr bzw. sein Bewusstsein für die Kosten von Lebensmitteln gesteigert habe.

Fleisch wird teurer, Gemüse günstiger

Mehr Auseinandersetzung mit dem Thema wünscht sich auch Alessia Perotti. Die Lebensmittelwissenschaftlerin berechnete in ihrer Masterarbeit an der ETH die wahren Kosten von acht konventionell hergestellten Lebensmitteln. Sie kam zu ähnlichen Ergebnissen wie jene Wissenschaftler:innen, die für Penny die neuen Preise berechneten: Fleisch- und Milchprodukte müssten bis zu doppelt so teuer sein, Früchte und Gemüse hingegen günstiger. Denn sie seien gesünder und würden dadurch weniger Gesundheitskosten nach sich ziehen.

Was auf den ersten Blick logisch erscheint, ist komplex: Die unzähligen Faktoren zu gewichten und ihnen einen Wert beizumessen, sei herausfordernd, gab Perotti gegenüber SRF zu. Zudem bestünden auch positive Nebeneffekte bei der Produktion von Lebensmitteln, wie zum Beispiel die Landschaftspflege. Die Forschung und die Datenlage seien diesbezüglich noch zu wenig weit.

«Für jeden Franken, den wir für Nahrungsmittel ausgeben, werden wahrscheinlich etwa 90 Rappen an externen Kosten verursacht.»

Trotzdem zeichnen ihre vorläufigen Berechnungen ein klares Bild. Für jeden Franken, den wir für Nahrungsmittel ausgeben, werden wahrscheinlich etwa 90 Rappen an externen Kosten verursacht. Heisst: Statt aktuell 37 Milliarden Franken jährlich müsste die Schweizer Bevölkerung nach Perottis Modell mindestens 70 Milliarden Franken für Lebensmittel ausgeben. Wer für diese Mehrkosten aufkommen soll, müsse die Politik entscheiden, findet die Wissenschaftlerin.

Wer soll dafür bezahlen?

Dass Lebensmittel neu berechnet werden müssen, pflichtet auch der Umweltökonom Felix Schläpfer bei. Aktionen wie jene vom Discounter Penny könnten auf das Systemversagen aufmerksam machen, sagte er im Interview mit dem Branchenmagazin Schweizer Bauer. Seiner Meinung nach liegt das Problem in unseren rechtlichen Bestimmungen, die nicht dem Verursacherprinzip folgen. Der Umweltökonom publizierte letztes Jahr zusammen mit seinem Kollegen Markus Ahmadi eine Studie zur Kostenwahrheit in Landwirtschaft und Ernährung. Darin wird deutlich: Mit der Anpassung der Preise im Supermarkt ist es nicht getan.

Kostenwahrheit umfasse auch die Seite der Betroffenen. Diese müssten laut Schläpfer für schädliche oder lästige Auswirkungen entschädigt werden. Schäden gilt es also entweder zu vermeiden oder finanziell auszugleichen; zum Beispiel mit Abgaben, die vollständig an die betroffene Bevölkerung zurückgegeben werden. «Preiswahrheit ohne Kostenwahrheit schanzt die Umwelt den Reichen zu und entrechtet Menschen mit tiefen und mittleren Einkommen», so der Forscher. Nur das Verursacherprinzip könne dieses Manko lösen.

Der Staat in der Pflicht

Auch aus Sicht von Laura Spring, Co-Geschäftsleiterin von Vision Landwirtschaft, braucht es zwingend Massnahmen, um der Kostenwahrheit im Ernährungssystem näher zu kommen. «Die jetzige Bepreisung von Lebensmitteln führt zu Fehlanreizen auf der Seite von Konsument:innen, aber auch auf jener der Produzent:innen.» So würden Betriebe, die auf biologische Landwirtschaft umstellen, zwar für ihren Aufwand mehr Subventionen erhalten. Jene, die mit Pestiziden oder Kunstdünger der Biodiversität oder Trinkwasserqualität schaden, müssten hingegen nicht für den angerichteten Schaden aufkommen. Dies gilt es laut der Agrarwissenschaftlerin zu ändern.

Eine andere Möglichkeit wäre, dass der Staat Anreize im Konsum setzt, also Produkte durch sogenannte Lenkungsabgaben verteuert, wenn sie Umwelt und Gesellschaft stärker belasten. Die Idee ist nicht neu: Bereits in den 1980er-Jahren subventionierte der Bund Bleifrei-Benzin. Weil dadurch mehr Autofahrer:innen mit der günstigeren Alternative tanken wollten, sahen sich auch die Hersteller:innen gezwungen, die Motoren für den Schweizer Markt entsprechend umzubauen. Mittlerweile ist Benzin mit Blei in der Schweiz verboten – auch dank dem Eingreifen des Staates.

Spring sieht deshalb alle Akteur:innen in der Pflicht. Zwar könne es helfen, wenn Detailhändler tiefere Margen auf Bio-Produkte verlangen oder Konsumierende vermehrt aus eigenem Antrieb auf konventionell hergestellte Lebensmittel verzichten, doch für einen Systemwandel brauche es Veränderungen auf einer übergeordneten Ebene. «Wir haben in der Schweiz eine Agrarpolitik, aber keine Ernährungspolitik. Das müssen wir ändern», sagt Spring. Die Berechnung der wahren Kosten von Lebensmitteln sei ein entscheidender Teil davon.

Dass die beiden Kinder einmal weniger für Bio-Tomaten bezahlen müssen als ihr Vater, hängt auch davon ab, ob der Bund es wie geplant bis 2050 schafft, die Kosten, die Umwelt- und Gesundheitsschäden verursachen, stärker miteinzubeziehen.

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