Hindernis für Hindernis überwunden

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Anja Preiss ist mit «Spina bifida», umgangssprachlich auch «offener Rücken» genannt, geboren. Sie fährt einen Rollstuhl und arbeitet heute im 1. Arbeitsmarkt. Nicht immer war ihr Weg dahin hindernisfrei.

Es regnet seit Stunden, die Wolken hängen tief in Buchs SG an diesem Nachmittag. Anja Preiss öffnet die Türe ihrer Wohnung im Erdgeschoss eines vor neun Jahren errichteten Mehrfamilienhauses. «Herzlich willkommen, möchten Sie einen Kaffee zum Aufwärmen?», fragt sie und führt in die offene Küche und das Wohnzimmer. Hier stehen ein grosses Aquarium und Vitrinen mit aufgereihten Modell-Traktoren an einer Wand. «Meine Fische sind meine Kinder», erzählt die 32-Jährige, «und die Traktoren sind von meinem Mann, er hat eine Vorliebe dafür.»

Anja Preiss ist Stationssekretärin und arbeitet 40 Prozent am Alters- und Pflegeheim Haus Wieden in Buchs: «Ich wollte immer im Gesundheitswesen tätig sein und liebe meinen Beruf», sagt Anja. «Im Bewerbungsschreiben habe ich mir überlegt, wie ich meine Behinderung nicht in den Vordergrund stelle, sondern meine Qualifikationen.

So habe ich über meine Ausbildung und mein Wissen geschrieben und nur am Schluss kurz meine Behinderung erwähnt», schildert die Gamserin. Zum Bewerbungsgespräch sei sie im Rollstuhl gekommen. Zudem ist die Arbeitnehmerin sehr offen, es war von Beginn an kein Thema, weshalb wegen Anjas Behinderung eine Anstellung nicht möglich sein sollte. Es habe nur ein paar kurze Fragen zur Gesundheit und der Invalidenversicherung (IV) gegeben: «Informationen, die ja für Arbeitgebende wichtig sind.»

Anja besuchte als Kind die Regelschule in Gams, eine heilpädagogische Schule wäre für ihre Eltern nicht infrage gekommen. «Ich selbst merkte nicht, dass die Schulbehörde meine Separation wollte, doch später erfuhr ich, dass meine Eltern für die Integration in der Schule kämpfen mussten.» Anja Preiss machte den Realschulabschluss und konnte danach mit beruflichen Massnahmen der IV eine Ausbildung im 2. Arbeitsmarkt als Büroassistentin abschliessen. Danach hängte sie die dreijährige Lehre als Kauffrau an: «Ich machte schlussendlich zwei kaufmännische Ausbildungen. Für mich war es hilfreich, im 2. Arbeitsmarkt die Berufsausbildungen zu absolvieren. Dadurch war es der Ausbildungsstelle möglich, mehr Rücksicht auf meine Ressourcen zu nehmen.»

Etwa eines von 3000 Kindern wird mit «Spina bifida», umgangssprachlich auch «offener Rücken» genannt, geboren. Spina bifida setzt sich aus den beiden lateinischen Begriffen spina («Stachel», «Dorn») und bifidus («in zwei Teile gespalten») zusammen. Es gibt zwei Ausprägungen: Eine ist die Spina bifida occulta. Hier zeigt sich ein gespaltener Wirbelbogen ohne Beteiligung der Rückenmarkshäute und des Rückenmarks, von aussen ist die Spaltung unsichtbar. Diese Form verläuft meist symptomlos und braucht keine Behandlung. Die zweite Form ist Spina bifida aperta, die bei der Geburt sichtbare Form der Spina bifida. Die Beschwerden der Betroffenen hängen davon ab, welche Anteile des Rückenmarks betroffen sind und auf welcher Höhe der Wirbelsäule der Spalt liegt. So kann Muskelschwäche in den Beinen oder Lähmungen der Blase und des Darms ein Thema sein. Ein Hydrocephalus (Wasserkopf) ist ebenfalls möglich. Meistens benötigt es Therapien, um den Bewegungsapparat zu stärken, da Skoliosen oder Gelenkkontrakturen (vor allem der unteren Extremitäten) auftreten können. Häufig werden auch Hüftgelenksdysplasien beobachtet. Anja hat Spina bifida aperta und bewegt sich im eigenen Heim, so gut es ihr möglich ist, als Fussgängerin, ausserhalb fährt sie einen Rollstuhl.

«Ich erlebe nicht oft Diskriminierung, aber manchmal gibt es absurde Reaktionen. Wenn ich zum Beispiel auf dem IV-Parkplatz parke und meinen Rollstuhl aus dem Kofferraum lade. Die einen Menschen bringen nicht zusammen, dass ich Rollstuhlfahrerin bin und dennoch für kurze Strecken Fussgängerin sein kann», erzählt Anja nicht ohne Schalk. Sie trägt die dunklen Haare kurz, ihr Blick ist offen und neugierig, sie erzählt, wie sie ihren Partner kennenlernte: «Mein Mann und ich lernten uns klassisch im Internet kennen, meine Behinderung war dabei nie ein Thema. Da ich ein Profilbild mit Rollstuhl wählte, wusste er von Beginn an, worauf er sich einlässt. Als wir jedoch zusammenzogen und mir bewusst wurde, wie er nun meinen gesamten Alltag und meine Körperpflege mitbekommt, hatte ich erst Schamgefühle. Ich wollte den Katheter oder die Darmentleerung, mittels eines Anal-Spülsystems, verheimlichen. Irgendwann ertappte er mich und sagte in einer ruhigen Selbstverständlichkeit: ‹Aha, so geht das. Jetzt weiss ich es.›» Anja lacht und schildert das Verhältnis zu ihren Eltern: «Ich zog direkt von meinen Eltern zu meinem Partner, das war für beide Seiten kein einfacher Prozess. Eltern von Kindern mit Behinderungen fällt es vermutlich noch schwerer als anderen, den Kindern Selbstständigkeit zuzutrauen, und sorgen sich schnell.» Anja verstehe insbesondere ihre Mutter, schliesslich habe sie sich sehr lange Zeit um sie gekümmert und sei für sie eingestanden. Anja hat zudem einen Bruder, zu dem sie ein sehr enges und gutes Verhältnis habe.

Spina bifida entsteht im Mutterleib: Die Wirbelsäule des Embryos entwickelt sich aus dem Neuralrohr, die embryonale Anlage des zentralen Nervensystems. Normalerweise wird es zwischen dem 22. und 28. Tag der Schwangerschaft fertig ausgebildet. Bei Spina bifida reisst es ein oder schliesst sich nicht vollständig. Dann bleiben ein oder mehrere Wirbelbögen geöffnet, die Rückenmarkshäute können dabei hervortreten und ebenfalls offen liegen. Warum das passiert, ist bislang unbekannt. Es können sowohl genetische Faktoren als auch bestimmte Einflüsse der Aussenwelt eine Rolle spielen. Ein Mangel an Folsäure in der Schwangerschaft und die Einnahme von bestimmten Medikamenten gegen Epilepsie erhöhen ebenfalls das Risiko. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfiehlt daher Frauen die Einnahme von Folsäure bereits einen Monat vor der Schwangerschaft. Folsäure reduziert das Risiko für Spina bifida um bis zu 50 Prozent. Folsäure wird mittlerweile auch vielen Lebensmitteln beigefügt – dem Mehl zum Beispiel.

Anja Preiss hat keine Probleme damit, wenn sie jemand auf ihre Behinderung anspricht: «Grundsätzlich bin ich offen. Wenn mich jemand fragt, gebe ich gerne Auskunft. Das ist mir lieber, als wenn Menschen mich einfach anstarren.» Sie schildert, dass sie sich nur dann ärgere, wenn Menschen sie mit Blicken belästigen, anstatt sie zu unterstützen, wenn sie einem Hindernis begegne. Und sie fügt lachend an: «Wenn ich für jeden Blick bezahlt würde, bräuchte ich keine finanziellen Leistungen der IV mehr.»

Gesundheitlich gehe es ihr gut, vor allem, seit sie zehn Kilo abgenommen habe. Das sei jedoch nur mit ärztlich medikamentöser Unterstützung möglich gewesen. Sie mache Physiotherapie, gehe oft schwimmen und regelmässig ins Fitness. Und das Vorspannbike fahren bietet der 32-Jährigen ein Stück Freiheit: «Das ist ein Handbike, welches am Rolli angemacht ist. Damit fahre ich Tagestouren und im Sommer zur Arbeit.» So gut wie heute ging es Anja nicht immer: «Ich habe schwer gekämpft, nachdem wir hier in diese Wohnung eingezogen sind. Ich war kurz darauf über 18 Monate arbeitslos, was mich psychisch und die Beziehung stark belastete. Es kamen öfters Gedanken wie: Will mich niemand einstellen, weil ich eine Behinderung habe, oder liegt es an mir als Mensch?» Sie habe sich überall beworben, nirgends habe es geklappt.

«Wenn ich für jeden Blick bezahlt würde, bräuchte ich keine finanziellen Leistungen der IV mehr.» Anja Preiss

«Während der Rückkehr in den 2. Arbeitsmarkt, hatte ich die Chance, eine Fortbildung dank der finanziellen Unterstützung der SPS (Paraplegiker Stiftung) zur Medizinischen Sekretärin H+ nebenberuflich zu absolvieren.» Parallel nahm sie ein Coaching von Pro Infirmis, der nationalen Dachorganisation für Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen in der Schweiz, in Anspruch. Und sie erhielt Beratung bei der Stiftung Profil, die Menschen mit Handicap in den 1. Arbeitsmarkt führt und Unternehmen zur Inklusion berät. «Für mich ist es enorm wichtig, einen strukturierten Alltag zu haben. Nur weil ich eine IV-Rente habe, heisst das nicht, dass ich nicht arbeiten kann und will. Ich möchte zeigen, was ich kann und wofür ich meine Ausbildungen und meine Fortbildung gemacht habe.»

Anja war kürzlich mit zwei Freundinnen im Ausgang. Der Hintereingang zur Disco sei zwar rollstuhlgängig gewesen, doch die Toilette nicht ganz. Oft erlebe sie auch, dass die IV-Toiletten zwar vorhanden, aber voller Material seien. Aufhalten lasse sie sich dadurch nicht: «So weit kommt’s noch!», sagt sie. Ihr Mann habe ein Quad gekauft, mit einem Anhänger, antwortet sie auf die Frage, wie sie ihre Ferien und Freizeit gestalte: «Er hat alles so umgebaut, dass es für mich geht. Wir fahren oft von Freitag bis Sonntag an schöne Orte und sind mehrere Tage unterwegs, das macht mir mega Spass. Auch fuhren wir schon zweimal nach Deutschland. Mein Schatz kommt ursprünglich aus dem Bundesland Sachsen-Anhalt. Mit dem Quad sind dies dann mehrere Tage. Es macht immer wieder Freude, so nah an der Natur sein zu können.» Sie gehen auch zusammen zum Bogenschiessen. Und sie liebe es, zu kochen und zu backen. «Zudem bin ich Aktuarin bei der Procap Sarganserland-Werdenberg. Procap ist die grösste Selbsthilfeorganisation von und für Menschen mit Behinderung in der Schweiz», so Anja.

Der Regen rinnt an den Fensterscheiben hinunter. «Ich freue mich auf den Frühling, Regen ist als Rollstuhlfahrerin anstrengend, so viel an- und ausziehen ist mühsam.» Anja Preiss schildert, auf was sie sich noch freue in naher Zukunft: «Eine Kreuzfahrtreise mit meinem Mann, unsere verspäteten Flitterwochen.»

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